Es gab große Pläne: Studium, Arbeit, Kinder und dann die Diagnose: Erschöpfung / Burnout. Eine individuelle Betrachtung über den Burnout als Vater.
Auf Arbeit immer fade schinden, wirst irgendwann du schade finden.
Icke
Wir schreiben den 29. Juli 2004. Ich stehe schick angezogen in einem Labor meiner Fachhochschule und verteidige meine Diplomarbeit. Die Zuschauer haben viele Fragen, ich beantworte alle souverän. Die Professoren ziehen sich kurz zur Beratung zurück.
Dann bekomme ich - neben vielen Glückwünschen - meine Diplomurkunde überreicht. Auf dem Zeugnis steht die Note 1,0 - Jahrgangsbester in Regelstudienzeit. Eine Auszeichnung vom VDI folgt. Einen Arbeitsvertrag habe ich auch schon unterschrieben.
Den Job will ich aber nur kurz machen, mal reinschnuppern in die Arbeitswelt, ein paar Erfahrungen sammeln. In zwei, drei Jahren geht es dann richtig los. Ein eigenes Unternehmen soll es werden. Ideen habe ich viele - nur kein Geld und keine Mitstreiter. Aber das kommt schon noch. Ich habe große Pläne und sehe mich als der nächste Mark Zuckerberg oder Elon Musk. Warum auch nicht, bei dem Abschluss?
...in den März 2015. Ich sitze an meinem Schreibtisch und habe Schwierigkeiten meine Augen offen zu halten. Ich versuche mich daran zu erinnern wie man programmiert. Ich habe den Code vor mir, ebenso eine Deadline.
Aber es geht einfach nicht. Es ist Montag, 8:30. Die letzte Nacht war heftig. Sohnemann hatte irgendeinen Magen-Darm-Virus und ist alle 15 Minuten zum Klo gerannt. Ich hinterher. Festhalten, Beruhigen, ins Bett schleppen, sauber machen, ins eigene Bett fallen. 10 Minuten später das gleiche Spiel von vorn. Vater sein ist toll.
Es ist 9 Uhr. Ich sitze immer noch da und habe keine Zeile Code geschrieben. Ich denke über die vergangenen 11 Jahre nach und was so aus meinen Träumen geworden ist. Wollte ich nicht Karriere machen? Wollte ich nicht Großes erreichen? Wollte ich nicht auch ein toller Vater sein? Stattdessen sitze ich auf einem Job, der zwar gut ist, aber keine großen Perspektiven bietet und sehe meine Kinder durch die Pendelei nur kurz vor dem Schlafengehen und am Wochenende. So kann's nicht weitergehen.
Ich gehe zum Arzt und werde wegen Erschöpfung krankgeschrieben. Vier Wochen zum Ausruhen und Nachdenken. Viele Gespräche mit meiner Frau, meinen Eltern und Freunden folgen. Sie helfen - ein bisschen. Ich denke über einen Berufswechsel nach.
Heilpraktiker vielleicht oder Ernährungsberater. Oder Lehrer. Nur kein Computer mehr, kein Programmieren. Mit Menschen arbeiten. Dann die Ernüchterung: Die Ausbildung ist teuer, der Erfolg zweifelhaft, richtig Geld verdient man nur nach einem Vollzeitstudium, bei dem man erstmal kein Geld verdient. Das wird also nichts.
Vielleicht ist Programmieren doch nicht so schlecht und es liegt nur am aktuellen Job? Aber in meiner kleinen Heimatstadt gibt es kaum Jobs für Programmierer und wenn, dann sind sie schlecht bezahlt. Also noch mehr Pendeln und die Kinder noch weniger sehen?
Nein. Umziehen? Und die Kinder aus ihrem Freundeskreis reißen? Die freiberuflich tätige Frau vor einen kompletten Neuanfang stellen wo es gerade gut läuft? Den Eltern und Großeltern ihre Kinder, Enkel und Urenkel wegnehmen? Ich bin glücklich, aber alle anderen nicht? Nein.
Es geht nicht vor und nicht zurück. Ich fühle mich gefesselt, in der Falle. Aber es muss doch einen Ausweg geben. Mehr Gespräche folgen und zeigen mir Alternativen, aber nichts überzeugt wirklich. Ich fange an zu meditieren. Atmen, Nichtstun, Beobachten, Atmen.
Nach ein paar Monaten täglicher Meditation bemerke ich, wie Ruhe in meinem Kopf einkehrt. Die Grübelspirale hört auf. Ich habe endlich die Möglichkeit bekommen, ein wenig klarer zu sehen. Die wichtigste Erkenntnis:
Wenn du deine Umwelt nicht ändern kannst, dann kannst du immer noch dich selbst ändern.
Eine andere Sichtweise auf die Dinge, ein anderer Fokus, andere Prioritäten, vielleicht hilft das. Da ist beispielsweise die Idee, dass man Karriere machen sollte, wenn man “etwas aus seinem Leben machen will”.
Nun, Karriere ein sehr abstraktes Konzept. Dabei geht es darum, wie ein Bekloppter zu ackern, nur um dann mit viel Glück einen feuchten Handschlag vom Chef und hernach ein wenig mehr Geld, aber noch viel mehr Arbeit zu haben.
Wenn man kein Glück hat, wenn man nicht zur rechten Zeit am rechten Ort ist, dann bekommt der schleimige Psychopathen-Kollege den Job und man selbst ist der Depp.
Muss ich da mitmachen, wenn ich was aus meinem Leben machen will? Die Antwort: NEIN!
Es ist mein Leben. Ich habe nur dieses Eine. Es ist endlich. Und es ist in ein paar Jahren zur Hälfte ´rum (ich bin Optimist). Ich will mein Leben jetzt leben und nicht nur davon träumen, während ich es für den Arbeitgeber gegen Geld verbrauche.
Vielleicht sollte nicht die Karriere im Lebensmittelpunkt stehen, sondern die Familie. Statt Vorstandsvorsitzender werden zu wollen, strebe ich jetzt den Posten des besten Papas der Welt an (und hoffe irgendwann auf eine Beförderung zum besten Opa der Welt). Das geniale daran: Nichts hindert mich daran, nicht auch der beste Ehemann, Sohn, Enkel, Schwiegersohn und allgemein der Typ mit dem besten Leben ever zu sein. Die Kriterien für Letzteres definiere ich im übrigen ganz allein und es ist mir völlig egal, was ihr alle davon haltet.
Deshalb habe ich jetzt Nägel mit Köpfen gemacht und meine Arbeitszeit (und mein Gehalt) um 20% reduziert. Einen weiteren Tag in der Woche verbringe ich im Homeoffice. Ich bin meinem Arbeitgeber sehr dankbar für diese Möglichkeit. Mir ist bewusst, dass das nicht jeder machen kann.
Vielleicht hat sich die ganze Lernerei damals doch gelohnt. An meinem freien Tag mache ich vormittags, wenn die Kinder in Kita und Schule sind, was ICH will. Ich stelle mich nach dem Frühstück mitten ins Zimmer und mache, was mir in den Sinn kommt - nur nicht aufräumen, häusliche Pflichten oder Termine. Die können warten (die mach ich natürlich auch - nur nicht an diesem Vormittag).
Dieser Vormittag ist mein heiliger Martin-macht-sein-Ding-Vormittag. Es ist herrlich! Ich lerne mich ganz neu kennen! Wusstet ihr beispielsweise, wieviel Spaß man beim Bemalen und Bekleben winzig kleiner Plastikteile haben kann? Eben noch ein Haufen hochdruckgepresstes Polypropylen und - zack - keine hundert Stunden später ist daraus die ISS im Maßstab 1:144 geworden. Und das ist erst der Anfang - ich habe große Pläne.
Nachmittags, wenn die Kinder zu Hause sind, unternehmen wir viel zusammen. Wir gehen raus oder bauen an Töchterchens Lego-Haus weiter oder spielen mit Sohnemann im LAN Computerspiele. Endlich mehr Zeit für die Kinder. Ich kann an ihrem Leben teilnehmen, nehme ihre Sorgen und Wünsche besser wahr und habe auch noch Zeit für mich. Ich betrachte die Gehaltseinbußen als Investition in meinen Seelenfrieden.
Noch andere Dinge haben sich geändert. Die Pendelei ist keine nervige Pflicht mehr, sondern eine Zeit zum Entspannen, Lesen und Dichten (siehe oben) - vorausgesetzt die Züge fahren pünktlich.
Überstunden mache ich nur auf explizite Anweisung des Chefs. Dass das funktioniert, habe ich ihm mehrmals bewiesen und er ist mit der Regelung zufrieden. Ich konnte mein Arbeitsthema leicht verschieben (eine neue Programmiersprache), lerne jetzt viel Neues und habe erstmals seit Jahren wieder Spaß am Programmieren. Ansonsten ist die Arbeit eben einfach Arbeit. Die muss, genau wie der Hausputz und der Wochenendeinkauf eben gemacht werden. Manchmal ist es gut, manchmal nicht. Das ist okay so.
Ich habe gelernt innezuhalten, den Augenblick wahrzunehmen, ohne zu reagieren. Und ich habe gelernt, die vielen kleinen schönen Dinge zu sehen, die jeden Tag passieren, und die man manchmal hinter den ganzen großen Problemen nicht erkennt.
Dieses Erkennen und Wertschätzen von positiven Dingen - und seien sie auch noch so klein - bewirkt eine Verschiebung der mentalen Balance, weg vom Schwermut, hin in die Mitte. Viele kleine Dinge können schwerer wiegen als ein großes Ding.
Vielleicht hatte diese Erkenntnis den stärksten Einfluss auf den Wandel im letzten Jahr. Aber ohne die Familie, die Gespräche und vielleicht auch die Meditation wäre das so nicht passiert. Ich bin letzten Endes dankbar dafür, dass ich das alles so erlebt habe, denn die ganze Sache hat mir viel übers Leben beigebracht.
Ich weiß nicht, was die Zukunft für mich bereit hält - aber das ist auch nicht so wichtig. Der einzige Weg, ein Leben erfolgreich zu leben ist, es zu ERleben - und zwar genau jetzt.
Vielleicht sitze ich immer noch in der Falle. Aber ich habe es mir darin gemütlich gemacht.
Lies jetzt weiter in Mama
Verrückt, dass es schon drei Jahre her ist, seit ich über mein Bullet Journal und die Planung und Umsetzung schrieb. Inzwischen habe ich viel ausprobiert, sogar meine Planung einzig mit digitalen Notizen, Trello und Kalender, doch das klappte nicht. Ich brauche ein Bullet Journal im Notizheft, weil mich das glücklicher macht. Meine liebsten Bullet Journal […]
Mental Load gibt es, keine Frage. Doch Mental Load taucht aktuell überall auf, mir ist es zu viel. In den Blogposts und Artikeln steht, dass die Mütter den Großteil der Verantwortung und Organisation tragen. Ich kann es nicht mehr hören. Die Mental Load Debatte fühlt sich für mich eher nach Mimimi an statt nach Problemlösung: […]
Die 40-Stunden-Woche als Vollzeit-Definition muss endlich wegfallen! Wir kommen ins Straucheln bei der täglichen Care-Arbeit, obwohl wir uns diese sehr gut gemeinsam aufteilen. Wir hetzen von Arbeit zu den Kindern, die Kitas und Schulen haben mitunter kürzere Öffnungszeiten. Gesellschaft, Unternehmen, Lobbies, ändert euch endlich!
Ich möchte an dieser Stelle etwas Schreiben, das ausdrückt, wie sehr ich das verstehen kann und wie niedlich dieses klopsige "Doofe Ding" da aussieht.
Ich glaube, gerade Menschen mit Perfektionsdrang und Idealismus sind früher oder später ernüchtert. Man hat große Ziele, aber die Priotitäten ändern sich mit der Zeit und mit den Menschen, die uns wichtig sind.
So viele Gedanken, so viele Sorgen, so viele Fragen - man ist immer unter Strom, um ja alles zu geben und seinen eigenen Anprüchen gerecht zu werden: eine leistungsfähige Arbeitskraft sein, ein gutes Elternteil sein, eine gute Partnerschaft haben, ein vernünftiger "erwachsener" Mensch sein...
Und irgendwann erkennt man: Das Leben ist nicht unendlich. Wir müssen alle sterben. Und wir wissen meistens nicht, wie lange wir noch haben. Was ist wirklich wichtig? Was ist das, was von mir bleibt?
"Leave your front door and your back door open. Allow your thoughts to come and go. Just don’t serve them tea."
Guter Artikel, allerdings finde ich den Titel etwas abschreckend. Ein bisschen mehr Positivismus, denn das vermittelt schließlich der Artikel, hätte sich im Titel ruhig finden lassen dürfen, bspw.: "Nach dem Masterplan: Nägel mit Köpfen - Wege aus der Erschöpfung".
Hallo Heike,
Danke für dein Feedback! 🙂
Viele Grüße
Sarah
Hallo Sarah, ich bin verwirrt: eure Jungs sind geboren 2006 und 2010 und gehen jetzt in die Schule bzw würden gerade abgestillt? Oder schreibst du nicht aktuell? Und für welches Töchterchen ist das Legohaus? Lg, Christina
Hallo Heike,
deine Verwirrung mag daher rühren, dass nicht Sarah diesen Artikel geschrieben hat, sondern ich, Martin - Sarahs Dauergastautor. Sarah erlaubt mir dankenswerterweise ab und zu mal Artikel auf ihrem Blog zu veröffentlichen. Und ich habe eine sechsjährige Tochter und einen zehnjährigen Sohn. Da passt das dann schon mit Schule und Legohaus! 😉
Viele Grüße,
Martin